Die kritische Kultur tritt das Netz

Wie kaum eine Debatte sonst spiegelt diejenige über die Geeignetheit von Joachim Gauck die durch die Wissenskultur des Internet geprägten Diskursstrategien und zeigt zugleich alte Muster.

Der aufgekommene Shitstorm über Äußerungen Gaucks zu den Hartz IV Demonstrationen, zu Sarrazin und die Arbeitsbereitschaft von Hartz-IV-Empfängern hat sich als voreiliges Bashing eines überhitzten Apparates erwiesen, welches offenbar ohne zumutbare Informationsleistungen Äußerungen aus dem Kontext gerissen hatte.

Dem werden nun, nur als Beispiel, von Deniz Yüksel in der TAZ und Stefanowitsch im SpektrumBlog Apologien entgegengesetzt, weshalb zwar aus dem Zusammenhang gerissen wurde, J.G. es aber trotzdem verdient hat, so verstanden zu werden – wenn man denn zu verstehen wüßte.

Beide erläutern einleitend ihre Technik der Kritik (warum immer irgendwie alles aus dem Kontext gerissen ist) und welche Hermeneutik anzuwenden sei.

Yüksel erklärt dann anhand eines längeren aus dem Kontext gerissenen Zitats eine ganze Menge. Er zerlegt die innere Wahrnehmung und die äußere Erscheinung der Sprache des J.G. in alle Einzelteile anhand eines einzigen Absatzes. Tatsächlich mutet er uns zu, ihm abzunehmen, daß er das Holocaustverständnis von J.G. anhand dieser kurzen Passage einer Rede über Holocausdiskurse herauszaubern könne, wie das Kaninchen aus dem Hut.

Nicht anders Stefanowitch. Er nimmt die inkriminierten, vorher aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate im Kontext, was hier heißt, in dem näheren Absatz. Keine Rolle spielt, die Systematik im Text, die Textform, der Adressat und das Thema des Textes. Adieu klassische Exegese. Aber auch hier wird zunächst erläutert, wie etwas zu verstehen sei.

Beidemale wird nach der Kennzeichnung der Diskurstechnik oder Hermeneutik erklärt, wie die Zitate eigentlich zu verstehen seien und was eigentlich für eine Gesinnung hinter den Äußerungen stecke. Denn die vorherige Argumentation, J.G. sei feindlich eingestellt gegen Gleichheit, Sozialbezüge, Ausländer verschleift sich bereits im näheren Kontext des Absatzes. Was würde nur geschehen, wenn man dann doch einmal aus dem Zusammenhang eines Textes argumentieren würde? Wäre das erhellend?

Mit Verständnis und Verstehenwollen hat das alles nichts zu tun. Es hat die Analyse eines Absatzes auch nichts mit einer Kontextanalyse zu tun, wie uns beide verkaufen wollen. Eigentlich absurd daran ist, daß sich kein Widerstand gegen so eine offensiv verkürzte Argumentation äußert: Was sollen dann Bücher oder gar Aufsätze noch, wenn sich alles aus Absätzen erschließen ließe. Doch die Netzgemeinde ist dankbar.

Stimmt es daher, daß Gauck ein Präsident für Intellektuelle ist oder wird? Nun jedenfalls muß man ihm nicht zuhören, wenn man Urteile fällen will. Das hat „das Netz“ mit einem Stammtisch gemein. Die kurze Phrase, das Aufschaukeln von Stimmungen, Überhitzung und Lautsprechertum. Die behauptete Schwarmintelligenz ist die virtuelle Volksmeinung.

Es fragt sich, ob sich dabei ein Präsident erlauben kann, different zu sein.

Bemerkenswert auch die Kultur der Kritik. Die Netzkultur entwickelt sich gegenwärtig zu einer Kultur der Kritik, zu einer Kritikattitüde. Essentiell ist die kritische Haltung.

Tatsächlich geht es nur um Polemik: um Diskursstrategien, um das Schließen der Reihen von Gleichgesinnten im Netz. Insofern ist „das Netz“, wieder einmal nichts Neues und wieder einmal nichts weiter als die Wirklichkeit, nur wieder mal woanders.

Notzucht an einer schamlosen Hure

Die Inanspruchnahme von Prostitution ist Vergewaltigung.

Sagt eine Theorie.

Ich kann das nicht beurteilen. Mangels persönlicher Erfahrung ist Prostitution für mich nie gesellschaftliche Realität geworden und begegnet mir daher nur als eine Idee. Als eine reale Idee von Humanisten, Konservativen, Zuhältern und Prostituierten.

Sieht man sich die Situation im Spiegel der Öffentlichkeit an ist die Inanspruchnahme von Prostitution Vergewaltigung, die Bereitstellung Menschenhandel, das Anbieten Versklavung. Meistens.

Es gibt daneben eben auch die Frau, die sich für diesen Weg entscheidet und (bei uns) dafür entscheiden kann. Da ist die Idee „Inanspruchnahme von Prostitution ist Vergewaltigung“ das Absprechen der Dispositionsfreiheit über den eigenen Körper, das Verweigern von Handlungsfreiheit der Frau.

Die größte und beste Diskussion über die Handlungsfreiheit und die Freiheit des Menschen fand um 1800 statt, als sich das Bürgertum aus den Fesseln des Feudalismus befreite. Das dauerte nicht lange, nur wenig später, schon Mitte des 190. Jahrhunderts kam man schon zu Auffassungen, die den Menschen ethisch kategorisierte. Da findet sich dann das Gegenteil: Eine Hure kann gar nicht vergewaltigt werden:

Der unbedingte Gleichheitsgedanke des Strafrechtlers Feuerbach (so hier verkürzt) empörte sich C.J.A. Mittermaier, führe konkret etwa dazu, daß bei der Notzucht nurmehr die Disposition über den eigenen Körper geschützt werde, so daß ”selbst von einer Notzucht an einer schamlosen Hure” gesprochen werden könne.

Die Zeitläufte interessiert das alles nicht: Containerschifffahrt, Girokonto und Fernseher haben die Prostitution in Bremen abgeschafft, steht in der TAZ zu einem Buch von Frauke Wilhelm: Die Taschen waren voller Geld, Edition Temmen.