Schlagzeite

Hin und wieder verpasse ich, in die richtige Straße einzubiegen, die Ausfahrt zu nehmen. In der Regel geschieht das wegen Aufmerksamkeiten, wegen Maigret auf der Rue Auber oder dem Oboenkonzert von Cimarosa. Schon hat man den Zug verpasst oder die Ausfahrt. (Bei der Suche nach einem geeignetem Beispiel für das Oboenkonzert bietet sich sofort wieder Gelegenheit abzugleiten in Beobachtungen über ungeahnte Selbstdarstellungen der Oboisten, deren ausladende Innigkeit im Gestus sehr schön korrespondiert mit der innigen Intonation der Noten, die dadurch zusehends Schlagseite bekommen, wegzukippen drohen vom Notenblatt hin zum Künstler.)

KunstGeorgicum

Unaufmerksamkeiten sind unerwünschte Aufmerksamkeiten. Wenn die Amsel auf dem Dach dem Schüler wichtiger erscheint als die Tafel mit Rohrspatz heißt das ja nicht, dass er nicht zu einem Ziel gelangen könnte. Aber der Tafel ist ihre Präsenz zwingend und der Eigensinn ein Abgleiten.

So bekommt die Präsenz der Personen Schlagseite. Sie sind anwesend, suchen aber den ganzen Tag in der Erinnerung nach dem doch vermissten Kuss beim Verlassen des Hauses, den sie unbeholfen nicht empfangen und dann nicht eingefordert haben. Oder sie pflügen eine Furche durch die Tage und Nächte mit einem starren Beharren auf Regeln und Naturgesetze, deren Einforderung in der Realität den Übrigen nur Starrsinn sein muss.

Ich räume ein, dass ich bei mir selbst schamvoll die Unduldsamkeit gegen die Fahrer auf der Mittelspur beobachten muss. In der Soziologie der Autofahrerei (Habermas!) lassen sich hierüber weitläufige Betrachtungen anstellen über Länder, Infrastrukturen und Charaktere, auch über Zeitempfinden, Geschwindigkeiten und Präsenz. Selten hat der Mittelspurfahrer die Lässigkeit der Langsamkeit für sich beansprucht, die das Rechtsfahrgebot aus Gründen der eigenen Ökonomie berücksichtigt. Das Touchieren mit den Flüchtigkeiten der rasenden Vertreter stört den Fluß des genügsamen Autoflaneurs dafür doch allzusehr.

Land langsam

Das Fahren auf der Mittelspur ist gerne offensives Vertreten der eigenen Präsenz einer als Öffentlichkeit begriffenen gemeinsamen Bewegung. Es ist erkennbar etwa die Noblesse und die Unerfahrenheit des Italieners und Schweden mit dreispurigen Autobahnen und das offensive Beharren der eigenen Stellung durch, nun, andere Nationen, die lange an ein Tempolimit gewohnt waren, die eigene ausdrücklich nicht ausgenommen. Die Wahl der Fahrspur ist dann Darstellung des Anspruchs auf Gleichheit, des Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und nicht verwiesen zu bleiben auf die rechte, die nachrangige Spur (wenn das nur auch sonst so wäre), die Spur der Langsamen oder der Transporteure – oder aber nur die Angst vor dem Spurwechsel oder aber nur Träumerei. Als Negation und gegen die Freiheit der unbegrenzten Geschwindigkeit, die aber zweifellos zur Gewähr der Verkehrssicherheit das Mitwirken und die unbedingte Aufmerksamkeit aller Anderen erzwingt. Die Ausübung der Freiheit setzt damit ebenso eine zwingende Struktur wie die Gleichheit.

Porsche - Nails

Schlagseite, Geschwindigkeit, Schlagzeit. Divergierende Geschwindigkeiten in der Wahrnehmung kreuzen sich mit Gewohnheiten im Raum. Der eine kreuzt schnell, der andere steht gerne abseits, der nächste macht sich wichtig.

Das dachte ich mir so als ich zurückfuhr, nach Hause, der Kirschblüte entgegen.

Kirschblütenschuppen

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