Ihm ist kalt.

Seit Monaten gewöhnen wir uns langsam ein den Zustand des Ablebens. Machen uns Gedanken, fragen nach, hören auf die Ärzte, ob es sich bei den Symptomen um eine neue Krankheit handelt oder um den unaufhaltsamen Verfall. Die Krankheit hat eingesetzt vor etwa 3 Jahren in dem Maß, dass Medikamente der bösen, vernichtenden Art genommen werden müssen. Und auch damals war es nur eine Klassifikation von Krankheit oder verwandter Gesundheitsprobleme nach ICD, sonst nennt man es Alter. Und das Alter kennt nur einen Weg.  Die Sonne geht auf im Osten und unter, im Westen, immer, immer weiter, für jeden und unaufhaltsam nimmt sie ihren Lauf.

Sonne geht unter, jeden Tag

Dem alten Haus geht die Kraft aus. Das ganze Leben gearbeitet, Kindheit auf dem Bauernhof, als letzter Jahrgang noch im Krieg, mit ein wenig Wohlwollen hätte er sehr wahrscheinlich noch die Schule zu Ende machen können. Nur Wohlwollen gab´s damals nicht. Sein Vater war gebrochen aus der Beugehaft der Nazis zurück, heißt es. Der Grund der Haft ist nur gerüchteweise überliefert, wie meist in totalitären Systemen. Nachdem er ihm lange den Zugang zur HJ verboten und einen Juden gedeckt hatte, kam genug zusammen an Renitenz, die beschnitten werden musste. Das einzige Bild seines Vaters, körnig, eine Gelegenheitsaufnahme am Kaffetisch mit Großmutter und Frankfurter Kranz, zeigt einen schmächtigen, alten Mann mit schiefer Krawatte, einer unklaren Präsenz zwischen Redefluß und angedeutetem Scherz. Hinter ihm je ein Bild der eigenen Eltern an der Wand in Goldrahmen, getrennt durch ein kleines Sträußchen. Der Blick der Mutter klar, zurückgelehnt, selbstbewußt. Im Krieg also und kriegsgefangen im Lager, irgendwo bei Krasnojarsk, soweit ich weiß und ich weiß auch hier nicht viel, weil diese Erfahrung für einen Jugendlichen nichts war, was später geteilt werden konnte, bis heute nicht und jetzt in keinem Fall mehr. Dafür durfte er das Gymnasium nicht beenden nach der Entlassung, weil er als vorbelastet galt als einfacher Soldat. Verloren hat er damit die Ausbildung seiner Neigungen, Klavierspiel und Schiller, vielleicht. Was weiß man schon über einen 17-jährigen, der in den Krieg musste. Mitgebracht hat er Menschkenntnis und Kraft.

Weg Stein

Heute, vor ein paar Tagen, ist ihm kalt, den ganzen Tag, die Lunge bildet zuviel Schleim und die Kraft ist weg. Er kommt nicht hoch. Er fällt hin, auf den Boden und reist sich die Haut auf, die vom Kortison entsetzlich dünn und brüchig geworden ist. Die Feiertage gingen gut, da war´s auch mit dem Essen gut, das gibt wieder Kraft, hofften wir. Morgen, übermorgen wieder, vielleicht. Das Geschehen ist weit weg wie die Energie.

Da hinten

Als ich gehe, weiß ich, dass ich mich gerne bewusster, vielleicht auch liebevoller verabschiedet hätte, heute und morgen, vielleicht zum letzten Mal oder noch die nächsten 2 Jahre. Einerseits. Ich weiß auch, dass das nicht geht, dass das nicht mein Leben ist, das da vergeht und ich Achtung und Distanz haben muss vor dem was da geschieht. Ich kann nicht bei solchen Abschieden das Drama der Endgültigkeit beschwören. Und mein Bedürfnis nach Mitgefühl hat keinen Anspruch und muss vor der Achtung zurücktreten. Takt ist der Respekt vor dem Empfinden des Anderen. Gott, was sind wir unbeholfen in diesen Dingen. Dann kommen die Abschiede, die man nehmen muss, weil die Straßen zufrieren oder das Kind aus dem Kindergarten abgeholt werden muss oder das Geschäft ruft. Die Abschiede, die man nicht in der Hand hat, weil irgendwer dabei steht oder ein Hustenanfall unterbricht.
Oft meine ich, es sei nie zu spät, Dinge zu klären oder zu erfragen; es gibt Ausnahmen.

Land weit

Vor etlichen Jahren, als er das erste Mal vom Tod gesprochen hat, war ich zögerlich und abwehrend. Wer will das schon heraufbeschwören und davon reden. Ich bin froh, recht schnell begriffen zu haben, dass er das will und jeder alte Mensch das will. Das ist es, was in ihre Welt einbricht und immer mehr Raum greift. Sie gehen auf den Tod zu und wollen ihn begreifen für sich und wir sollten sie nicht alleine lassen damit, unsere Alten, dann werden wir auch nicht allein sein mit dem Gedanken an unseren Tod und in ihm, dereinst, hoffe ich so für mich in meinem Sessel.

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