Heute vor 25 Jahren saßen wir im Cafe Adler direkt am Checkpoint Charlie. Zuvor haben wir uns einen Spaß und eine Freude gemacht. Aus einem Selbstbewußtsein, aus einem Geschichtsbewußtsein. Eine Mischung aus Gedenken an die Weimarer Republik und die Pogromnacht, eine Geburtstagsfeier, die eigenen Kochkünste und die jugendliche Hibris dies alles verschmelzen zu können in einer Kreuzberger Hinterhofwohnung mit dem Hintergrundrauschen AC/DC Konzertfilm.
Die Nachricht, dass die Mauer fiel kam überraschend. Die einen saßen in der Badewanne und lasen angeblich Kant (was ich seither nicht vergesse als Beispiel für peinliche Selbststilisierung und Empathielosigkeit), bei den anderen war der Film zu Ende, die Videokasette stoppte und das Erste Deutsche Fernsehen erkannte uns plötzlich den Fall der Mauer und die Erwartung anstürmender DDR-Bürger.
Der Weg war nicht weit und innert einer halbe Stunden waren wir in einem Pulk zentral im Cafe Adler, welches damals meist verlassen in einer ehemaligen Apotheke am Checkpoint Charlie mit herrlicher Milchglas-Kassetten-Decke und ähnlich überkommenem Design die Frontstadt und Ausgesetztheit der Mauerstadt in Zeit und Geschehen symbolisierte. Wir brachten nicht zuletzt aufgrund der gierig uns umrundenden Journalie nicht viel mehr als eine Komödie über Luis Trenker zustande, während draußen die Bürger der DDR freudetrunken und geduldig durch die geöffneten Tore ihres Gefängnisses nach West-Berlin gingen (was ich seither nicht vergesse als Beispiel für peinliche Selbststilisierung und Empathielosigkeit). Die Mauer war kein altes schmiedeeisernes Tor, mehr Symbol und tauglich als Ranke für Sträucher und Einfassung sozialer Dinstinktion.
Die Mauer war die Verweigerung von Grundrechten, nicht nur der Freiheit im physischen Sinn, sondern mit den Todesstreifen, den Grenzpatroullien und den Mauertoten eines der Symbole für die Drohung des Unrechtsstaates DDR im Fall ausbleibenden Wohlverhaltens staatliche Willkür vor staatliches Recht zu setzen.
Nichts, so stellte sich heraus, konnte darauf vorbereiten, keine Analyse in dem Maß so vorangetrieben oder nur ernstgenommen werden, dass der Fall der Mauer als erwartbares Ereignis greifbar war. Die Nachschau läßt uns eine halbwegs klare Linie sehen mit Stationen in Leipzig und der Berliner Gethsemane-Kirche, der Umwelt-Bibliothek und hunderten weiterer kleiner Mosaiksteine. Ein kurz danach stattfindendes Symposium am Zentrum für vergleichende Geschichte offenbarte uns die desaströse ökonomische Lage, die Aussichtlosigkeit der Versorgung der Bevölkerung mit Heizmitteln über den Winter hinaus ohne fremde Hilfe, deren Erwähnung aber im Gespräch mit alten Genossen und gefühligen Ostalgikern zu erbosten Reaktionen führt. Mit Unglauben denke ich noch heute an meine erste Fahrt in die Lausitzer Kohleregionen, die eine desaströse Infrastruktur zeigte und für die LKW kaum befahrbar waren. All die Anstrengungen der Überwachung des Ostraums, so konnte man damals lernen, waren nicht geeignet, die Situation zu verstehen, wurden offenbar dazu nicht betrieben. Die Frage war nicht Verständnis, sondern Machterhalt im Ost- / West-Konflikt. Zynismus wurde einem nicht beigebracht, sondern eingehämmert in den Jahren danach. Und der Vorwurf der Larmoyanz darüber war nichts anderes.
Ich meine, es hat sich in vielen Dingen tatsächlich nicht viel getan seither.
Gut, wenn man bereit gewesen wäre, sich selbst und der Gesellschaft zu vertrauen, hätte man eine Verfassungsreform gemacht. Hat man nicht. Dann hätte man nicht eine Diskussion über eine Partei, die nicht bereit ist, eine Ente eine Ente zu nennen und einen Unrechtsstaat als solchen auch zu bezeichnen, einen Staat, dessen Legislative nicht zum Schutz des Bürgers eingerichtet wurde, sondern zum Schutze der Herrschaft. Der Begriff Unrechtsstaat trifft es natürlich sowohl in der moralischen, als auch in der gesetzlichen Bedeutung. Die DDR war ein Staat, der Unrecht geschaffen hat, keiner berechbaren Ordnung und keiner gesetzlichen Kontrolle unterworfen war, der gegen seine eigenen Gesetze handelt und – noch viel mehr – ungesetzlich handelt in dem Sinn, dass Entscheidungen willkürlich getroffen wurden, weil die Herrschaft eine Willkürherrschaft war, eine nicht nach rechtstaatlichen Prinzipien geordnete und nicht durch Gewaltenteilung organisierte Nation.
Ich habe nichts gegen Intergration, Vergebung und Persilscheine. Das hat sich trotz allem als notwendig und befriedend erwiesen. Schuld ist ein schwieriges und hinterfotziges Ding und im großen Maßstab gehört unbedingt auch Verzeihen dazu. Dazu ist aber auch notwendig, die Dinge beim Namen zu nennen und eben nicht zu verschleiern, weil sich jemand verletzt fühlen könnte. Die DDR war ein brutales gewalttätiges, dabei höchst zynisches Regime bis auf die unterste Ebene, eine Diktatur, gestützt auf willkürliches sanktionierende Gewalt, auch wenn sie sich gern weichgespült gab. Diese Gewalt zu leugnen, wegzuerklären und nicht anzunehmen ist die Empathielosigkeit, die uns belastet, und das Vertrauen nehmen kann in die Welt. Diese Gewalt zu leugnen und zu akzeptieren wirkt auch weiter in eine Herrschaftsstruktur, die offenbar ein System wie den Nationalsozialistischen Untergrund angefüttert hat, gewollt oder ungewollt, bewußt oder unbewußt, einerlei.
Wegen dieser Unfähigkeit zur Offenheit (und zu trauern) auch dort, wo es weh tut ist uns allen diese Befreiung wenigstens auch schal und lack und zum Teil nicht gelungen. Vertrauen kann man nicht in politische Amtsträger, die zum Schutz der eigenen Befindlichkeit leugnen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.


