Das Fressen als moralischer Imperativ

Schon ein wenig her, trotzdem dieses Interview der Zeit mit Ministerpräsident Böhmer (von Sachsen-Anhalt) hat die Drehmoral in sich: Aus erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, wird

Das Fressen als moralischer Imperativ:

„…

Böhmer: In beiden Fällen ist für mich derjenige glaubwürdiger der sagt, bedenkt die Folgen, lasst euch nicht verführen. Wenn sie so eine Sache anfangen, müssen Sie sie zu Ende zu bringen. Sonst haben sie bloß Schaden angerichtet.
ZEIT: Warum haben die Ostdeutschen zur Atomkraft ein weniger emotionales Verhältnis als die Westdeutschen?
Böhmer: Ich will jetzt nicht sagen, weil sie klüger sind, aber sie reagieren eben sachlicher, vielleicht auch, weil sie die ganze hoch emotionale Antiatomkraftbewegung der Bundesrepublik nicht direkt miterlebt haben. Die Atomenergie wird ja auch in Finnland oder Frankreich anders bewertet als im Westen Deutschlands. Rund herum um Deutschland gibt’s doch nicht diese psychotische Angst, wie sie hierzulande herrscht.

…“

Diese zwei Absätze von Böhmer zeigen die Struktur des konservativen saturierten deutschen Denkens auf: Oberflächlichkeit, Verantwortungslosigkeit, Herablassung und fehlende Emphatie. (Beck ist da nicht anders.)

Zunächst wird große Rede geschwungen von wegen persönlicher Glaubwürdigkeit und der Verpflichtung, die Folgen unseres Handelns zu bedenken. Wehe wehe wehe, wenn ich an das Ende sehe, ist aber doch nur ein Märchen – die Politik schaut nicht zurück und das Ende liegt immer hinten. So dreht sich alles, bis es passt. Wer die Folgen seines Handelns ernsthaft im Blick hat, muß zweifellos als erstes den Gedanken aufgeben, daß es es keine halben Sachen gibt, daß die Aufgaben unter allen Umständen zu Ende gebracht werden müssen. Vorwärts immer, rückwärts nimmer ist der Schlachtruf des Ideologen, der unbedingten Planverfolgung ebenso wie des Primus inter Pares, der selbstgerecht und gereizt von den Bedenkenträgern die Bedeutung seiner Entscheidung nur mangelhaft gewürdigt sieht.

Verantwortungsethik sieht anders aus. Sie akzeptiert das Scheitern als Möglichkeit, das Mäandern der Bedingungen und Erkenntnisse, die Flexibilität des Denkens. Verantwortungsehtik will das Ergebnis sichern und nicht den Weg verfolgen. Das hier ist reine Gesinnungsethik: Die Ausrichtung der Welt nach einer Idee, nach einer Vorstellung, die man Realität nennt, nach einem Plan, den man verlogen Pragmatismus nennt. Weil man kann, weil man die Mehrheit hinter sich hat, die man beschenkt, weil einem die Kosten vorder Hand wurscht sind, weil man sie nicht tragen muß in seinem Garten.

Im folgenden gibt er dann gleich ein ausdrucksvolles Beispiel, daß die Folgen des Handelns tatsächlich überhaupt keine Rolle bei der Abwägung der ausgewählten Handlungsoptionen spielen.

Nicht nur, daß wie nebenbei die selbstgefällige Mär des Ostlers als  klügeren, weil realistischeren Menschen aufgetischt wird. Wer was nicht sagen will, soll es nicht sagen. Und wer sagt, er will dieses und jenes ja wohl nicht gesagt haben, der sagt es gleich zweimal. Perfide hat diese doch vermeintliche zweckfreie Einleitung des Gedankens nur den Zweck der Denunziation des verantwortungsvollen Denkens, indem er mit der Ablehnung seiner Argumentation auch die des Wesens der Ostdeutschen verbindet.

Er versichert sich für seine Haltung der Zustimmung der Starken, der Realen. Hier steht der Mensch, klar, hell und freundlich und den besten Absichten, dort die Gegner des Fortschritts, in psychotischer Angst kauern sie sich an die alten Emotionen der westdeutschen Antiatomkraftbewegung.
Während in Fukushima die Erde strahlt und Menschen sterben, schwafelt der Mann von Psychosen der Atomkraftgegner. Als Arzt wird er ja wohl wissen, was Psychosen sind. Als Arzt sollte er auch die lange Liste der medizinischen Irrtümer kennen und die eigene Erkenntnisfähigkeit kritisch sehen. Aber er steht da als Arzt, der ein medizinisches Problem nicht erkannt hat und mit dem Krebsbefund in der Hand den Angehörigen sagt, sie sollen sich mal nicht so gehen lassen, Andere hätten sich auch nicht so. Fehlende Empathie.

Die Verdrehung der Realität kann sich dieser Mann wohl leisten – er ist Baujahr 1936, wähnt sich am Ende eines erfüllten Lebens, das in den Gardenien endigt. Er gibt uns eine Geisteshaltung mit, die sich für illusionslos hält und im Spiegelkabinett Hof hält. Mit Herablassung sieht er auf die staunenden Gäste von draußen. Die Welt ist voll von Besserwissern.

Ich meine, es wäre redlich zu sagen, daß der westliche Lebensstandard, wie ihn seine Wähler wohl haben wollen, zwangsläufig diese und jene Kosten in Form von Umweltkatastrophen und Toten bedingen. Dann soll er das sagen. Er soll sagen, daß er das trägt, für notwendig hält und morgens wie abends aushält, wenn er in seinen Garten schaut und mir nicht von Psychosen reden. Ich würde die Haltung nicht teilen, aber die Rede wäre ehrlich, vor allem zu sich selbst.

Peinlich ist nicht nur das enge, selbstgerechte, gegenüber den Atomkraftgegnern respektlose (gegenüber den Opfern haltlose) Denken Böhmers, sondern auch, wie das Interview der Zeit weitergeht.

„ZEIT: Sind Sie genug gehört worden in Ihrer eigenen Partei?

ZEIT: Sie haben gesagt, wenn Sie nicht mehr Politiker sind, wollen Sie mehr gärtnern. Beim Heckenschneiden: elektrisch oder von Hand?

Nennt man das kritischen Journalismus?

Am Rande: Die Habilitationsschrift Böhmers lautet: Die Entwicklung der individuellen und gesellschaftlichen Belastung durch die menschliche Reproduktion.

Das ist ein Titel. Ich frage mich bei dieser Geisteshaltung ernsthaft, was eine solche Schrift, erstellt in einer sozialistischen Diktatur wohl birgt. Möglicherweiße sogar noch ein wenig Ehrlichkeit zu einer Zeit, als es noch nicht so drauf ankam?