Wahn, Schuld, Vernunft

Zum Geisteszustand von Anders Behring Breivik sind zwei psychiatrische Gutachten erstellt worden und etliche Kommentare beschäftigen sich nun mit der Funktion von Schuld und Strafe in unseren westlichen Rechtssystemen. Es geht dabei etliches durcheinander, angefangen von den Zwecken des Strafens bis zur Funktion der Bewertungskriterien, hier vor allem der Kategorien Schuldfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit.

In aller Regel haben sich die westlichen Staaten von dem Gedanken eines Vergeltungsstrafrechts abgewendet. Dies hatte zur Folge, daß nicht Buße und Sühne (oder die Negation der Bösen Tat und dergl. mehr) durch die Strafe bewirkt werden soll; Strafzweck soll die Wiederherstellung der sozialen Ordnung sein, vor allem durch die Resozialisierung des Täters.

Kerngedanke und Perspektive ist eine soziale Ordnung aus der der Täter durch sein (abweichendes) Verhalten ausschert. Das soziale Gefüge ist wiederhergestellt durch die Wiedereingliederung des Täters in die soziale Norm. Diese Dominanz der sozialen Ordnung, angesiedelt zwischen Volonté générale und Volksgemeinschaft, führt zu einer Fixierung der Straftheorie auf die Mehrheitsgesellschaft und zur Vernachlässigung der Opfer, wie des beeinträchtigten Rechtsgutes. Das ist natürlich nicht immer so gewesen. An der Schnittstelle der Entwicklung des bürgerlichen Strafrechts, um 1800, wurde intensiv die Funktion des Strafrechts diskutiert, unter anderem anhand des überlieferten Strafzwecks „quia peccatum est“: Die Strafe folgt der Verletzung des Rechtsguts, nicht einem abweichendem Verhalten. Ich halte die Gründe für die spezifische Fixierung des Strafrechts in Deutschland auf die Verletzung der Rechtsordnung nicht geklärt. Sicher spielt hierfür aber eine Rolle, daß die Protagonisten allesamt aus dem bürgerlichen Lager stammten und einerseits der ethischen Betrachtung der bösen Tat (Verbrechen als Sünde wider die göttliche oder ständischen Ordnung) und andererseits der Willkür der (disparaten) Ständegesellschaft ein Ordnungsmodell einer funktionierenden, bürgerlichen Gesellschaft gegenüberstellen wollten. Gesellschaft als Ansammlung von Individuen gleichen Ranges, Ansehen und Rechte. Verbrechen als Verletzung einer Übereinkunft dieser Gesellschaft:

»nulla poena sine lege«, »nulla poena sine crimine« und »nullum crimen sine poena legali«.

 (Es gibt auch einen anderen Weg, Verbrechen zu betrachten und nicht den Umweg über die Verletzung der Ordnung einer Gesellschaft nimmt, sondern von der rechtsverletzenden Handlung ausgeht: Ist ein Rechtsgut definiert, folgt die Strafe auf seine Verletzung. Die Schuldfähigkeit oder Zurechnungsfähigkeit als Einpassung in das Ordnungssystem Gesellschaft spielt da allenfalls eine sekündäre Rolle bei der Vollstreckung der Strafe.)

Das Problem, ob über die Person des Täters die soziale Ordnung wiederhergestellt werden kann, wird unter anderem den beiden Polen: Schuldfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit verhandelt: Ist der Täter schuldfähig, kann er bestraft werden, ist er zurechnungsfähig besteht Hoffnung, daß er wieder in die Gesellschaft integriert werden kann. Die Zurechnungsfähigkeit wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Aufkommen der Psychologie entwickelt. Dabei wird die hinter der Resozialisierung stehende Gesellschaft zu einem teleologischen Gespinst, das nivellierend und normsetzend wirkt, aber hinter der vorgeblich naturwissenschaftlichen Methode der Bestimmung einer Schuld- oder Zurechnungsfähigkeit zurücktritt.

Man kann das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Eine Art von „Medikalisierung“ eines Bedingungszusammenhangs und der Erkenntnis, daß sich in das Modell der Resozialisierung nicht alles eingliedern läßt. Die Zurechnungsfähigkeit als psychologischer Kategorie drückt sich dabei um eine Entscheidung über das, was eine Gesellschaft (nicht dulden) will.

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Einen (bisher dritten) Weg im Zusammenhang mit Grenzfällen von wahnhaft überzeugten Tätern oder überzeugten Wahntätern hat Gustav Radbruch genommen, der erste linke Justizminister Deutschlands und Vorkämpfer für ein humanes Strafrecht und ein Jugendstrafrecht im Sinne einer wirklichen zivilisierten Gesellschaft, ein Vertreter des Humanismus und immer von der Warte eines pragmatischen Sozialstaats ausgehend.

Sein Entwurf zu einem Strafgesetzbuch Radbruch von 1922 ist geprägt von zwei Leitlinien. Zum einen strebt er nach der Einschränkung des kriminalisierten Bereichs auf die wesentlichen Tatbestände, der „Ausscheidung der Rechtssätze zweiter Ordnung“, wie sie etwa das Polizeiunrecht, die Ordnungswidrigkeiten darstellen. Zum ande­ren ist das Strafensystem nach kriminalpolitischer Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ausgerichtet. D.h. die (weitere) Abkehr von der Vergeltungsstrafe und eine Reform der Freiheitsstrafen mitsamt einer Reform des Strafvollzugsystems.

Gegenüber dem alten Erziehungs- und Sicherungsstrafrechts, das den Täter in den Vordergrund der Betrachtung setzte, legt Radbruch den Akzent auf den Menschen in seinen sozialen Bezügen.

Das sozialstaatliche Prinzip Radbruchs kommt auch in der umstrittenen Behandlung des Überzeugungstäters zum Ausdruck. Der Überzeugungstäter ist nach Radbruch einer höheren Norm verpflichtet, er ist der Andersdenkende. Radbruchs Auffassung vom Staat, von der sozialen Gerechtigkeit und von dem Relativismus der Werte zwingt ihn auch zu einer Tolerierung des Andersdenkenden. Da der Staat nur die sittliche Berechtigung zur Strafe hat, wenn er die Person des Verurteilten achtet, muß er bei Ansehnung der Würde auch des Überzeugungstäters von dessen potentieller Sittlichkeit ausgehen. Da er jedoch nicht besserungsfähig sein kann, trifft ihn die Strafe der Einschließung (§ 71 des Entwurfs Radbruch), die eine Art Festungshaft in Strafvollzugsanstalten sein sollte.

Radbruch hatte mit Haarmann, Denke und Großmann sowohl Erfahrung mit hochgradig gestörten Serienmördern, mit politisch motivierten Morden (Erzherzog Franz Ferdinand 194, Rathenau 1922) als auch mit Terroranschlägen (Wallstreet 1920).

Die Voraussetzungen für die Abwägung in Form verschiedener Vorkommen schwerer Straftaten lagen daher zu Tage. Mehr noch vielleicht als heute dürften Hemmungen bestanden haben, die Ausübung von Gewalt vorschnell als krankhafte Störung zu bezeichnen. Auch wenn die Kriegs- und Gewaltbegeisterung vor und im Ersten Weltkrieg nicht die kolportierten Ausmaße angenommen haben, Gewalt war nicht in dem Maße wie heute diskreditiert.

Insofern fiel der politische Extremismus aus dem Raster des Schuld- und Zurechnungsfähigen einerseits und des krankhaft Gestörten andererseits. Nur: tertium non datur. Den Überzeugungstäter gibt es nicht, er ist keine Abwandlung vom Tyrannenmörder und jede Sonderstellung begünstigt die Verbrecher, die – nicht geisteskrank – mit Gewalt ihre rationalen Interessen gegen eine Gesellschaft stellen.

Würde man in dieser Konstellation weitergehen, so geht man dem Wahn des Breivik in die Falle: Politisch war seine Tat eben nicht. Auch wenn es Gruppen geben sollte, die die Tat an sich begrüßen – das Verbrechen des Anders Breivik ist die Tat eines alleinstehenden, empathielosen Narzißten, der seine Emotionen und Fähigkeiten im Videospiel formulierte, naiv genug den Lügen von Hetzern und Faschisten aufsaß und offenbar dem Wahn unterlag, er stünde mit anderen in einer wirklichen Gemeinschaft.

Ob er geisteskrank ist oder nicht spielt für die Opfer keine Rolle.