Hal Bregg seine Interessen

Hal Bregg kommt von einem längeren Ausflug im Weltall zurück und erlebt aufgrund einer Zeitdillation eine erhebliche Veränderung der Gesellschaft. Stanislav Lem zeichnet mit den Mitteln der Science Fiction einen Bestand ab, der zu dieser Zeit selbst in der Geschichtswissenschaft erst sehr rudimentär vertreten wurde: Die kulturelle Veränderung von Personen und Gesellschaften auf Ebene der Mentalitäten und Gefühlswelten. Die Mechanismen sind noch weitgehend unklar, auch wenn wir heute sehr viel weiter sind im Verständnis der Soziobiologie, der kulturellen Entwicklung und der gesellschaftlichen Dynamik.

Jedenfalls hat die zurückgebliebene (hehe) Gesellschaft zum Wohle der Menschheit die Aggression abgeschafft und zu diesem Zweck verschiedene Techniken entwickelt, die das Leben gefahr- und konfliktfrei machen, mit dem Ergebnis, dass nicht nur Gewaltursachen ausgeschaltet wurden, sondern auch alle unvorhergesehene Ereignisse, jede Abweichung, konsequent: jedes Konfliktpotential, das sich auch nur aus einer differenten Einschätzung über Vorliegen und Art einer Gefährdungslage ergeben könnte.
Unter anderem wurden über eine Art Antigravitation in den Autos die Gefahren des Individualverkehrs abgeschafft: Es gibt keine Unfälle mehr, da alle (un-)beherrschbaren Bewegungskräfte aufgehoben werden. Hal Bregg findet sich nicht zurecht in der Gleichförmigkeit. Er klemmt den Antigravitator ab, weil er die Sinnlichkeit des Fahrens in den Brems-, Beschleunigungs- und Kurvenkräften als Erinnerung an seine untergegangene Welt vermisst. Soweit die Versuchsanordnung.
Die Nostalgie vermittelt sich ihm in der Erinnerung über die Bewegung des Selbst in der Welt und die Rückkopplung seiner Bewegung in den Kräften, die Welt und Selbst zusammenhalten. Das Sein bestimmt sich durch seine Stellung in der Welt, im Raum und die Stellung vermittelt sich über die Sinne: hier den Gleichgewichtssinn, die Schwerkraft des Seins.

Wir wissen nicht, wie sich die Gesellschaft in der Geschichte von Lem verändert hat, darauf kommt es dort nicht an. Nach allem, was wir wissen, sind es aber nicht Ideen, die die Welt verändern oder wenn wir Max Weber darin folgen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen…“
Techniken, Innovationen und Interessen. Ideen haben Einfluss auf das wie und ein wenig auf das Wohin, auf die Bahnen, in denen sich die Interessen bewegen, aber das Initial einer Bewegung kommt der historischen Erfahrung nach von Interessen, nicht von Ideen.

männer, gleich

Heise berichtet von Versuchen, mit BigData Unfälle zu vermeiden und mal eben jedes Fahrzeug und die komplette Infrastrutur mit individueller Kennung und Bewegungssensoren auszurüsten. Damit das rund wird mus konsequent auch jeder Mensch im Raum mit Sensoren ausgestattet werden. Nur mal so als Lobbyisten-Idee. Wer könnte was dagegen haben? Wir sind doch alle für weniger Unfälle und den Schutz der Personen. Schon wird spekuliert, wie Eltern für ihre Kinder haften, die kein Smartphone mit Bewegungssensoren dabei haben. (Am Rand zu diesem Fortschritt: Meine Sparkassen-App meldet mir, dass in der Stadt Beacons installiert sind, so dass man mir, wenn ich in der Nähe bin, doch hübsche kleine Aufmerksameiten einspielen könnte. Ich möge doch freischalten und Zugriff auf meinen Standort erlauben etc. pp.)

Ein Beispiel wieder mal für die Wirkungsmacht der Technik, die auf Algorithmen aufbaut und das Potential einer Veränderungsmacht, das darin steckt. Natürlich handelt es sich wieder mal um den Narrativ, mit Technik Probleme zu bewältigen, die wir ohne sie nicht hätten. Der Individualverkehr ist eine Verheißung, der Person im öffentlichen Raum zugleich Stellung, Distanz und damit Raum zu verschaffen. Dass vordergründig nur die Praktikabilität der Arbeitsanfahrt oder des Einkaufens is Feld geführt wird, reicht nunmal nicht hin. Die Technik verspricht uns nun Verdichtung des Verkehrs, Zeiterspranis durch Parkmanagment, höhere Ökonomie der Bewegung. Anders formuliert wird durch Datenmanagment noch das letzte Stück versiegelte Erde zur effektiven Nutzung versprochen.

Es wird, wenn wir die spezifische Dialektik in Max Webers protestantischer Ethik zwischen Interessen und Ideen weiter führen, ein klassischer Konlikt geführt werden: Die Installierung dieser individuellen Bewegungsmelder folgt vielen Interessen, egoistischen vordergründig. Die wirtschaftliche Prosperität der BigData- Industrie, hier handelt es sich laut Heise um ein Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes, ist ein vorrangiges Interesse der Politik, des Eigeninteresse der Hersteller, der Technik, des Ausbaus der Infrastruktur, alles schreit nach Arbeitsplätzen. Dann freilich noch die Sicherheit vor Terroranschlägen, kennt man ja noch besser und metergenau den Aufenthaltsort jedes Menschen und kann ihn im Fahrzeug letztlich auch Stilllegen. Der Verweigerer (der Technik) kann isoliert und erkannt werden. Zuletzt die Interessen der Gesundheit der Bevölkerung. Unschlagbares Argument.

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Dagegen steht nur die Idee, die Reflexion über den Zustand der Welt, die Ökonomisierung der Lebenswelt, der Freiheitsräume und die Angst vor Gleichschaltung der Lebenswelten, Abschleifen von Individualität, Einhegung von Lebensräumen. Die Sorge um die Zusammenhänge eines überregulierten Privatlebens. Die Idee (nicht vielmehr ist in diesem Zusammenhang: die Kenntnis) von der Verödung der Gemeinden und des Gemeindelebens durch die Gelegenheit der technischen Infrastruktur Individualverkehr. Der Verlust individueller Freiheitsrechte.

Das ist der Konflikt derjenigen, die in den Koordinaten von Interessen denken: Cui bono, es müsse eine Bilanz geben, die messbar ist, sofort und unmittelbar in Werten und Gütern. Dagegen steht eine Idee, die zunächst einmal keine materiellen Interessen hat, außer freilich ideele Interessen haben kann. Dem interessengeleiteten Menschen, ist die Idee wenigstens unbeachtliche Kopfgeburt, meist Ideologie. Er wird es nicht verstehen können, da ihm eine interessenfreie Idee nicht erkennbar ist und er im Zweifel nur die (immer irgendwo mitschwingenden) ideelen Interessen erkennt. Darin hat er auch ein feines Gespür, für die dann oft doch nicht zweckfreie Idee, für die doch oft, zu oft durchscheinende Dogmatik, Selbstherrlichkeit, Eigensinnigkeit der sich als gute Menschenfreundlichkeit ausgebenden Idee. Da prüfe sich jeder selbst. Die Idee an sich, damit auch ideele Werte etc. geraten im Zug der Diskreditierung der Willensfreiheit immer stärker in den Bannstrahl selbstverstandener Realisten: Die Idee sei das bloß  Ausgedachte, die Illusion, die Weigerung vor der Macht der Interessen und der Fakten. Wohingegen sich der selbstverstandene Realist in der Bescheidenheit vor der Wahrnehmung seiner Interessen sonnt: er leite nur ab aus dem Faktischen und dem Offensichtlichen. Das artet mitunter in erbärmliche Selbstgerechtigkeit aus. Festzuhalten ist aber, dass argumentativ kein Weg an den Interessen vorbeiführt, der Weg für die Wahrnehmung von Ideen bleibt da verschlossen.

Aus diesem Grund muss (praktisch) den Interessen oder dem Vorwurf der neinsagenden, verhindernden Ideologie der Widerstreit der Interessen entgegengesetzt werden. Weil man sonst nicht weiterkommt.

Stanislav Lem, Tranfer, 1961.

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