life today

Der tägliche Weg zur Post ist ein Gradmesser der Arbeit. Gleich, ob es noch weiter geht, es bedeutet einen Abschnitt im Tag und schafft Distanz. Die Briefe in der Tasche zeugen von der geleisteten Arbeit. Auf dem Weg kommen die Gedanken zurück. Im Park zeigt sich das Fortschreiten der Natur. Vor ein paar Wochen schlugen die Haselpollen zu. Jetzt kommen die Knospen und zeugen vom steten Rad des Lebens. Meine Regelhaftigkeit. Die Regelhaftigkeit der Natur. Und noch das Andere.

0415

Zum Beispiel Eggleston. Life today, so bezeichnet er das, was er zeigt. Ich erinnere mich gerne an eine Szene aus einem Dokumentarfilm über ihn, in der er Cartier-Bresson präzise und knapp umschreibt, dessen Kunstverständnis, „a lot of Degas in here“. Ab min 8, Grandios.
Heute beim Platzschaffen alte Zeitschriften verlegt mit mir nichtssagenden Bildern von ihm und Wilmar Koenig. Das zeigt die andere Seite. Die Unerbittlichkeit des Blicks, den Hype der Medien, den Zwang alles zu verwerten. Eggelston ist für die Rolle sichtlich nicht geschaffen. Sein Blick, aber auch seine Bewegungen und Sprache zeugen von einer tiefen Humanität und, so meine ich, von der damit oft einhergehenden Verletzlichekit, die eine unüberwindbare Distanz gegenüber einer Öffentlichkeit schafft. Die Komplexität der Person ist nicht zu vermitteln. Es heißt, er liebt Bach und es gibt ein hinreißendes Foto von ihm am Flügel. Viel mehr weiß man nicht außer seine, nun, diskreten Hinweise auf die Kunstgeschichte und das tiefe Interesse an life today, he muttered.

0415 (2)

Bach, Degas, Cartier-Bresson, ein Dreiklang, der so manchen Kommunikationsdesignstudent_xInnen nicht hörbar werden wird während ihres Brütens über alternativen Marketingstrategien für den socialmediapuff, der ausnahmsweise echt coole Leute … gut, anderes Thema.
Auffällig ist die Reserviertheit, die Eggleston entgegenschlägt unter all den Interviews der letzten Jahre ( nur als Beispiel hier und hier). Man spürt die Distanz des Alten. Und die Fremdheit der Interviewpartner mit diesem anarchisch-aristokratisch Mann, der ihnen grade eine Knick in die Karriere schweigt. Die Unzugänglichkeit wird nicht als Merkmal der natürlichen Grenze zwischen den Charakteren wahrgenommen, sondern als Zumutung, als Unhöflichkeit. Und daraus wird dann unterschwellig der Vorwurf des angeknacksten Alkoholismus (wahlweise irgendeines anderen Defizits), der den Typ begleitet wie ein Schatten. Was auch nicht fernliegt. Nur, wer täte das je bei den Chefärzten, den Professoren, den Managern, die sich durchs Leben ballern. Wer fragt nach dem Personal-Trainer-Hype, den Tabletten, dem Koks, den Neuro-Enhancern, den Karriere-Fetischismus. Es ist eine Konstante unserer Gesellschaft, sich auf Linie zu bringen, die Kanten des Charakters abschleifen  bis zur Unkenntlichkeit um sich zu Fokussieren auf den homo oeconomicus, einen Vorteil zu erreichen gegenüber dem anderen. Das wesentliche ist die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Fokussierung, welche Mittel dafür verwendet werden, ob Meditation oder Koks, spielt keine Rolle.
Die Verweigerung dieses Konsens wird längst als Zumutung empfunden.

0415-1

Hinter diesen Fenstern ruht eine obsessive Sammlung von venezianischen Karnevalsmasken und Porzellanpuppen mit Echthaar und Schleifchen im Dämmerlicht. …?

Eggleston dagegen schirmt sich sichtlich ab. Er schützt seine Wahrnehmung eben so, wie er es braucht. Es reicht nicht ein Auto vor einem Haus abzubilden. Es muss eine Symbolkraft für die Gegenwart außerhalb des Bildes transportieren. Das zu erreichen ist nicht so leicht und jeder soll sich nehmen, was er dafür braucht, nur für sich und ohne andere zu schaden – wenn er die dafür notwendige Moral und Haltung dafür hat, etc.. Und bereit und in der Lage ist, die Konsequenzen zu tragen. Es liegt darin die Ambivalenz in der Selbstzurichtung durch Hilfsmittel, mentaler oder (bio-)chemischer Art: In der Masse ist es nichts weiter als selbst- und fremdschädigendes Doping. Im Einzelfall die selbstschädigende Fokussierung auf Produktivität – auch von Kunst und Humanismus. Es wird schon noch die Forderung kommen, Drogen zu legalisieren, weil sie demokratisierend wirken.
Wir haben gerade eine starke und richtige Bewegung der Gleichberechtigung und noch stärkere und falsche Auswüchse derselben. Machtkämpfe über die Gleichberechtigung. Es ist schwer gegen einen Gerechtigkeitsanspruch zu argumentieren. Aussichtslos der Hinweis, dass Gerechtigkeit ein jeweils persönliches Konstrukt ist, nicht zu erreichen und daher von den entwickelten Rechtssystemen ersetzt wird durch Formalien, meist. Weil das so schwer ist, sind die Fronten oft so hart. Dogmatische Rechthaberei hier, hässliches Gebolze da.

Aber die Linien zu bezeichnen ist wichtig. Sobald der Ruf nach einer spezifischen segmentären Gerechtigkeit (Gender, Integration, Sprache) erfüllt wird, wandert der Pokal zum nächsten Thema. Dann werden alle Drogen verboten und Mediation Pflicht. Oder eine Einheitsdroge nivellierend eingeführt, damit niemand mehr einen mentalen Vorteil hat. Und irgendwann wird nichts mehr übrig sein, es wird keine Abweichung mehr geben und keinen Eggleston, der durch die Gegend stakst. Weil wir uns einem Gleichheitskorsett verschreiben von dessen Auswirkungen wir keine Ahnung haben. Es wird zu Kämpfen der Wertigkeit der bereits erfüllten Gerechtigkeiten kommen wie das Amen in der Kirche und damit zu Hierarchien der Wertigkeiten. Gegen diese segmentären Ansprüche auf spezifische Privilegien richtet sich eigentlich unser modernes Recht (das aber immer mehr aufgebrochen wird durch symbolische Gesetzgebung und klientilistische Durchführungsverordnungen).

Und wir werden niemanden mehr haben, der uns life today zeigt. Also deshalb ziehen wir uns zurück und lassen Eggleston in Ruhe seinen was auch immer mit Nan Goldin genießen, auch wenn wir davon nichts verstehen.

Dieser Beitrag wurde unter Miscellen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.